Die Konstruktion des Ortes
Brüche in der Natur
Eine ganze Welt liegt zwischen Raum und Ort. Der Raum transportiert uns durch die drei Dimensionen, hinaus in den Kosmos oder hinein in das Innere der Moleküle; unbestimmt, so will er erobert werden; ohne vorhergehende Identität bildet er den Aktionsbereich von jedermann. Die Arbeiten von Jean-François Luthy zeigen natürlichen Raum, der noch die Spuren trägt von einer früheren, nun jedoch verschwundenen menschlichen Gegenwart. Wälder, Brachland, Randzonen, Eisenbahnschneisen, diese Zwischenräume, manchmal verkommen und trostlos, ohne Interesse, werden zum Thema skurriler Werke, ganz in den Tönen schwarz, grau und weiss. In Tusche gearbeitet, gleichen die Bilder von Jean-François Luthy Fotografien (Bildeinstellung, Wirklichkeitseffekte), sind aber auch der Malerei (Gebrauch des Pinsels) und der Zeichnung (Papier als Medium) sehr nahe. Von diesen hybriden Bildern könnte man sagen, dass sie brutale Einschnitte in die Natur darstellen. Es sind aber keine eigentlichen Naturbilder im Sinne der Kunstgeschichte. Es findet sich etwas erheblich beunruhigenderes, etwas weniger unbewegliches und sogar wenig natürliches in diesen Naturausschnitten. Mehr als die Räume, die die Neutralität des Territoriums ausdrücken, anders als Landschaften, bei denen eine von menschlichen Werten geprägte Natur zu sehen ist, mit anderen Worten, wo eine enge und privilegierte Verbindung zur wirklichen Welt besteht, stellen die Werke von Jean-François Luthy Orte dar. Das Wort «Ort» bezeichnet hier einen bewohnten Raum mit festgelegten Dimensionen. Aristoteles definiert Ort als das, was einen Körper umgibt, eine Art Hülle, gleichzeitig dessen Grenze und Schutz. Für den griechischen Philosophen erscheint der Ort nur, wenn er von Körpern bewohnt ist. Ohne Körper verschwindet der Ort, existiert nicht länger als solcher und wird wieder zum Raum, zur Fläche. So enthüllt sich der Ort als Wohnsitz der Körper. Ein bescheidener und flüchtiger Wohnsitz, im Gegensatz zur Stelle, die eine genaue Lage im Raum beschreibt. Die Stelle prägt einen Fixpunkt in der Landschaft, sie drängt ihre Position auf und will für sich selbst gewertet werden. Nicht so der Ort, der keine Sichtbarkeit verlangt und ständig überdenkt und konstruiert werden muss.
Die Bilder von Jean-François Luthy zeigen keine Körper in den Orten. Frei von Präsenzen, enthalten sie jedoch Spuren und Gesten menschlicher Eingriffe. Die vom Künstler ausgewählten Territorien wurden alle irgendwie von menschlicher Hand manipuliert. Es handelt sich nicht nur um Zeugnisse von Kinderspielen, Treffpunkten und provisorischen Bauten, die weiter bestehen, sondern vielmehr um die erhalten gebliebenen imaginären Bruchstücke: die Projektionen jener, die eines Tages diese Plätze belebt hatten. Einmal verlassen, bieten diese Orte nur noch überreste vergangener Präsenzen. Aber trotz der Abwesenheit der Körper, die den Ort dargestellt haben, besitzen sie noch die Aura der Lebewesen, die den Ort bewohnten, das Gedächtnis von geteilten Erlebnissen, die geisterhafte Präsenz der Körper. Und das ist genau das, was Jean-François Luthy einfangen und gefangen halten konnte. Keine Abwesenheiten, keine leeren Orte, sondern Präsenzen in absentia, das heisst Phantome. Das Werk gibt den Ort an die verschwundenen Abwesenden zurück, die diesen Ort verlassen haben. Mit dialektischer Meisterleistung gelingt es dem Artisten, gleichzeitig Ab -und Anwesenheit zu illustrieren. So kreieren diese Bilder unbestimmte Orte für unbestimmte Präsenzen.
Wie geht der Artist genau vor, um diese Orte und Bilder zu konstruieren? Jean-François Luthy arbeitet mit Tusche, auf dem Motiv, das Blatt flach auf dem Zeichenbrett liegend. Ein Pinsel und ein einziges Tintenfass sind die elementaren Werkzeuge seines Schaffens. Der Pinselstrich ist sehr fein, delikat, präzise. Extrem subtile Striche verbreiten sich wie gestreut auf dem weissen Blatt. Aus dieser Streuung der Striche entstehen Bäume mit ausladenden Zweigen, Holzbretter, Sitze, Steine, auf dem Boden liegende Zweige. Das Licht dringt durch und der Schatten füllt auf. Das Weisse ist das Licht, das Papier, der leere Raum, das nicht Gemalte. Das Grau und Schwarz ist der Schatten, die Fülle, der Rohstoff, die Tusche. Der Schatten ist materieller als das Licht, er besitzt mehr Dichte. Der Artist erscheint als Maler des Schattens. Er verfolgt sehr präzise den Modus der Ab- und Anwesenheit. Die Vereinigung mit seinem Thema erlaubt es ihm dank der ihm eigenen einmaligen Maltechnik den geisterhaften Ort, der zu konstruieren ist, wiederzugeben. Der Ort in den Bildern von Jean-François Luthy erfährt seine Ausarbeitung durch die auf seinen Schattenstrichen basierenden Technik.
Der Ort gehört der Zeit an, er ist markiert durch die Zeit. Er besteht aus einem Zeitgerüst, das sich Souvenirs oder Erinnerungen nennt. Das von
Jean-François Luthy aus Licht und Schatten geschaffene Bild wird so zu einer plastischen Repräsentation der Zeit: die Zeit der Vergangenheit, zurückgeholt in die Gegenwart der Beobachtung des Territoriums, wo anachronische Abwesende fähig sind, in verlassenen Orten zu spuken. Man könnte denken, dass die Arbeit des Künstlers im Hintergrund seines Themas stattfindet, so dass er sich in den Dienst einer Niederschrift des Reellen stellt (eine soziologische Auslegung könnte uns lehren, marginale Orte der Randzonen zu überdenken und die Bedeutung der Landschaften neu zu definieren), aber das ist nicht die einzige Absicht dieses Unternehmens. Die Präsenz des Künstlers zeigt sich klar im Prozess der Bildherstellung, ausgehend von der Realität, um sich dann zum visuellen Phänomen zu entwickeln. Visionen von nicht anwesenden Körpern, immaterielle Visionen von greifbaren Objekten, gleichzeitig sehr präzise (fast hyperrealistisch) und unpräzise (gesprenkelt und schwingend) in einer Realität aus Schwarz und Weiss, grelle Vision eines zu starken Lichtes. Dieses visuelle Phänomen übersteigert sich noch, wenn man die Effekte beobachtet, die von den hellen und dunklen Strichen hervorgerufen werden. Man ist frappiert von der Unbeständigkeit des Bildes, seiner Flächenbewegung. Die Formen, nicht begrenzt durch eine gerade Linie, das heisst, eigentlich nicht gezeichnet, sind das Resultat eines Lichtabdruckes, zittern und beben. Unbeständig, bilden sie sich vergehen wieder in einer fast nicht erfassbaren Bewegung, genau wie unser Auge, das auch in Bewegung ist in seiner Handlung des Schauens. So trägt das Bild eine organische Last mit sich, welche die Wahrnehmung des menschlichen Auges in einen physiologischen Aspekt umwandelt. Darüber hinaus entsteht durch das Unbeständige, das Zittern der Bilder der Eindruck für das menschliche Auge, ein digitales Bild zu betrachten. Ein Bild von Jean-François Luthy, geschaffen mit einfachen und klassischen Mitteln, allerdings abweichend von seinen traditionellen Anwendungen, präsentiert sich so als ein sehr zeitgenössisches Bild. Die Vibration der Striche, die einen gewissen Zweifel auf die Beschaffenheit der Welt und die Konfiguration der Formen wirft, kommt dem Geisterhaften der gezeigten Orte sehr nahe. So bekommen diese Orte die gleiche Existenzform wie Pulsierungen, oder besser wie ein Herzschlag. So erhalten wir ein bebendes Bild als Bild des Lebens.
Das leichte Rascheln des Bildes spiegelt auch den Wunsch nach Immaterialität wieder. Der leichte und vibrierende Strich berührt kaum das Papier, er ist fast eine Liebkosung. Was zurück bleibt ist nur eine winzige Spur. Es scheint, als wollte der Artist ein Bild realisieren, indem er es entmaterialisiert. Ein Paradox: der Gebrauch von Bildhaftem, um ein Lichtspiel auszudrücken; die beobachtete Realität zeigen, indem eine Vision geschaffen wird, das heisst, um eine populäre Definition zu verwenden, eine Illusion, eine Phantasmagorie (welche nebenbei gesagt mit dem Wort «Phantom») den gleichen etymologischen Ursprung teilt). Als Effekt ergibt sich eine Spiegelung, hervorgerufen durch das Schillern der vom Pinsel berührten Oberfläche. Die Spiegelung, Aktion des Lichtes auf einer mehr oder weniger glatten Fläche (die eines Spiegels oder die der Quelle, in der sich Narziss wiederspiegelte) faszinieren denjenigen, der sich von diesem Glanz aufnehmen lässt. Der Blick des Zuschauers kann sich verlieren in dem Durcheinander der unbeständigen und schimmernden Striche. Das Weltbild zerstreut sich in lumineszierenden Staub, verteilt auf Lichtparzellen. Die Spiegelung lässt das Bild in einem wechselnden Zustand des Erscheinens und Verschwindens aufblitzen. Der Glanz versteckt die Klarheit der Form, unterbindet seine Konturen und seine Grenzen, öffnet sich für den Raum. Fülle und Leere gehören zusammen, so wie die Abwesenheit der Körper ihre geisterhafte Anwesenheit betont.
Die Orte von Jean-François Luthy basieren auf der Repräsentation oder besser noch auf der Transgression, die das Visuelle dem Reellen aufbürdet. Auch wenn sie sich in der Realität befinden und wieder finden - und der Artist besteht auf seiner Rolle als Beobachter – existieren sie weniger als Kopie reeller Orte wie vielmehr als eigene Orte (wie man auch von Eigennamen spricht), die im geographischen Universum des Künstlers wieder zusammengesetzt werden. Indem er Orte des Gedächtnisses erschafft, macht sie Jean-François Luthy zu seinen eigenen Gemeindeplätzen: Territorien, die allen gehören, kurzeitig von anonymen Individuen belebt, werden zu seinem Milieu. So wie er in seiner Zeichenmappe die gefertigten Bilder mit sich trägt, so trägt der Künstler ebenfalls die Spuren seiner eigenen Art Dinge zu sehen mit sich, wie ein Atemzug von schwarzer Materie auf blankem Papier, Leinwand aller Wünsche. Der Ort, geformt durch Abwesenheit und Präsenz, verkörpert sich vollkommen in den Augen des Künstlers wieder und gibt ihm seine zitternde Materialität. Der Ort ist eine Hülle, sagt Aristoteles, bei Jean-François Luthy ist er ein Lichthof in «der dunklen Helle» der Welt.
Véronique Mauron
Brüche in der Natur
Es gibt Kunstwerke, die einen nicht mehr loslassen. Und es gibt Künstler, mit denen der Dialog, selbst wenn er aus der Ferne geführt wird und zuweilen unterbrochen ist, niemals endet. Die Zeichnungen in chinesischer Tusche und öl von Jean-François Luthy sind seit jeher Teil meines Lebens, bahnen sich in unregelmässigen Abständen ihren Weg in meine Gedankenwelt und führen zu Reflexionen, die in Schriftform Gestalt annehmen.
Die Veröffentlichung dieses Bandes im Jahr 2011, in dem die verschiedenen Serien der Arbeiten auf Papier von Jean-François Luthy aus knapp einem Jahrzehnt vorgestellt werden, gibt mir die Gelegenheit, ins Atelier zurückzukehren, die Portfolios zu öffnen und die Bilder noch einmal Revue passieren zu lassen, deren unzählige Pinselstriche Landschaften und bruchstückhafte Elemente der Natur zu einer Einheit werden lassen.
So tauche ich erneut in dieses mir vertraute Universum ein, das eine Vielzahl von Emotionen und Fragen bereithält – über einen Text, der Worte aneinanderreiht, die dem Begriff der «Abwesenheit» Ausdruck verleihen. Viel wurde bereits geschrieben und gesagt zur Abwesenheit in den Zeichnungen in chinesischer Tusche von Jean-François Luthy. Ich schlage einen Rundgang vor, nicht um die Bilder mit Worten zu füllen und diese so schweigsamen Werke geschwätzig werden zu lassen, sondern um zu zeigen, wie ein Künstler die Präsenz von Abwesenheit darstellt und sich diese in unserer Umwelt – unserer Lebensumgebung – manifestiert.
Ruinen
Treppen führen in alle Richtungen gegen den Himmel. Am Boden liegen weitere Stufen verstreut. Metallstangen bilden einen visuellen Kontrapunkt. Während unser Blick über die Stufen gleitet, eröffnen sich unzählige Wege und Möglichkeiten. Der in Pièces détachées geschaffene piranesische Raum hat weniger von einem Traum oder einer Halluzination eines Architekten als von der derzeitigen Realität in der bebauten Umgebung. Jean-François Luthy zeichnet eine Halde aus Betontreppen. Diese eigentlich neuen Bauelemente, jeder Funktion beraubt und ohne Kontext, ragen absurden Ruinen gleich in den unendlichen und bodenlosen Himmel.
Als anachronistische Relikte einer Zivilisation, von der sie industriell gefertigt wurden, erheben sie sich wie ein Lapsus der Baukunst, wie eine explosive und explodierte architektonische Form, in den Himmel. Sie verweisen auf eine Referenz, die nicht existent ist – ungewöhnlich für Relikte, die normalerweise das Bauwerk erahnen lassen, zu dem sie einst gehörten. Doch noch ist nichts verschwunden. Wir sehen die Vorwegnahme einer Ruine, die ich als Präfiguration bezeichnen würde. Dieser Ausdruck wird von den Kirchenvätern (im 1. bis 4. Jahrhundert) verwendet, um
figura, die Figur, zu beschreiben. Bei Tertullian erhält die Figuraldeutung etwas Prophetisches. Alle Figuren aus dem Alten Testament werden damit zu Vorwegnahmen, also Präfigurationen jener des Neuen Testaments. Eine Figur nimmt bereits eine andere vorweg und diese wiederum ist nur der Vorläufer einer weiteren. Die Ruinen in Vorwegnahme von Jean-François Luthy erinnern nicht an Denkmäler vergangener Zeiten (die nicht existiert haben), sondern weisen auf eine zukünftige Katastrophe, wo kein architektonisches Bauwerk diese Trümmer durch Decken und Wände einen wird. Sie nehmen eine Trostlosigkeit, ein Gefühl der Unmöglichkeit, ein undenkbares Bauwerk, eine endlose Baustelle vorweg. Die Pièces détachées stimmen uns melancholisch, da wir nicht wissen, was verloren ist. Sie erheben sich in gleichmässigem Licht, als wäre die Zeit in einer düsteren Ewigkeit erstarrt.
Leere
Ein leerer Himmel. Die Serien Panoramas und Pass basieren auf dem Gegensatz zwischen – zuweilen zurückhaltender – Fülle und unfassbarer Leere. In der ersten Serie, die hauptsächlich im Jahr 2008 entstand, nehmen Steinhaufen das Bild ein, versperren den Horizont und damit den Blick. Das Auge des Betrachters erklimmt langsam Stück für Stück die aufgeschichteten Steine. Löcher, Eisen und Schutt behindern die Sicht. Oben angekommen, findet sich nichts. Der Himmel stürzt ein. Während ein Panorama normalerweise zur Betrachtung einer weiten Landschaft einlädt, präsentiert der Künstler das Gelände hier vertikal und drängt eine Nahansicht auf, die vermuten lässt, dass sich die Erde plötzlich vehement aufgetan hat und der Künstler selbst davon überrascht wurde. Das Panorama verschlingt sich selbst.
In der Serie Pass ist der Weg vordergründig länger, eben oder mit leichter Steigung, zuweilen schneebedeckt, mit Felsen und Spuren durchsetzt. Eine weite Landschaft aus weit entfernten Hügeln breitet sich aus. Spannung kommt auf: Wie der einsame Wanderer oder der Emigrant, der seine Heimat verlässt, werden wir die Passhöhe erreichen und der Traum wird wahr werden, das Ziel erreicht sein. Diese Hoffnung hat Jean-François Luthy aus seinen Bildern jedoch verbannt. In den Panoramas, einer Werkesammlung, die die Serie Pass auf ironische Weise fortführt, stiehlt sich die Landschaft davon, der Abstieg hinter der Passhöhe existiert nicht, die Leere des Himmels besetzt das gelobte Land. Zur Grenze wird die Linie, die nicht länger den Horizont bildet, den wir erreichen möchten, sondern die die Landschaft durchtrennt und den Weg behindert. Sie zu überwinden ist schwierig, ob es gelingen wird, ist unklar. Der Traum zerschlägt sich angesichts der zu scharfen Klarheit.
Verschwinden
Ruhe, Bewegungslosigkeit und Stille dominieren die Werke von Jean-François Luthy. Gleichzeitig versteht man, dass sich dieser Zustand an einen anderen anschliesst, einen Zustand voller Bewegung, Unruhe und Rastlosigkeit. Man findet sich nach der Katastrophe wieder, nach dem Zusammenbruch, in einem Augenblick des teilweisen Verlusts und der Abwesenheit, der sich als eine instabile Präsenz manifestiert. Ich spreche von Verschwinden. Verschwinden der Katastrophe. Mit geschlossenen Augen hat man die Erschütterung gespürt und die Augen kurz danach wieder geöffnet. Gleich dem Spiel «Ein Hase läuft über das Feld», bei dem derjenige, der sich umdreht, die anderen erstarrt sieht. Alles kann jederzeit erneut ins Wanken geraten. Der Künstler konzentriert sich auf die Phasen zwischen zwei Katastrophen. So regiert eine drückende Stille, so nimmt die Abwesenheit Gestalt an, so bildet die Leere eine greifbare Masse. Alle griechischen Tragödien beginnen mit einer «Peripetie», mit «einem Wendepunkt, der die Wirkung von Handlungen umkehrt», mit einem Schlag aus heiterem Himmel, der die etablierte Ordnung stört. Danach kann das Drama seinen Lauf nehmen, denn es gibt etwas nach der Katastrophe. Auf dieses Danach konzentriert sich Jean-François Luthy, auf diese unspektakuläre, trostlose und unsichere Zeit.
Verschwinden von Bewegung, Verschwinden von physischer Präsenz, Verschwinden auch in der Arbeitsweise. Die Linienführung folgt zwei Mustern: Die Konturen werden mit Bleistift vorgezeichnet. Der Künstler spricht hier von Anordnung («mise en place»). Danach radiert er diese Struktur, diese erste Anordnung. Um die Welt nach der Katastrophe sichtbar werden zu lassen, bedient sich der Künstler des Löschens und der Annullierung. Die neu entstehende Welt besteht so nur aus Spuren und überresten, aus phantomhaften Formen einer verschwundenen Realität. Die Fülle des Realen erweist sich als unmöglich, die in diesen Arbeiten omnipräsente Natur zeigt sich nicht durch direkte Präsenz, sondern in Erscheinungsformen, um nach dem Verschwinden, nach der Annullierung, neu in Erscheinung zu treten. Die Werke sind in Grau gehalten, in der Farbe der Zurückhaltung, in der Farbe, die alle anderen Farben im Gedächtnis hat, in der Farbe der Asche und der nativistischen Welt, gleich einem Gegenstück zum Triptychon «Der Garten der Lüste» von Hieronymus Bosch (1503-1504, Madrid, Museo del Prado), die Schaffung des Universums in Farblosigkeit.
Dazwischen
Auch wenn Jean-François Luthy die Realität darstellt, ist diese doch stets schon überholt. überholte Zeit – die Zeit danach – überholung der Gegenwart mit phantomgleichen Formen, überholung des Gegenwärtigen mit der langen Arbeit des künstlerischen Schaffens. Es stellt sich eine zeitliche Verschiebung ein, eine intermediäre Zone, die sich selbst ausfüllt und aufbläht. Man befindet sich „dazwischen“. Alles wird zur Grenzlinie. So beispielsweise die Tuschezeichnungen der Serien Intervalles und Lisière oder die Cabanes als Orte vergänglichen Wohnens zwischen bebauter Umgebung und Natur, oft zwischen Bäumen angeordnet, zwischen Erde und Himmel, im Unterholz und im Dickicht, wo das Licht Waldränder und Lichtungen in Szene setzt. Die Serie Pass übersteigert die Grenzlinie zwischen zwei Bereichen, von denen einer nicht existent oder unzugänglich erscheint. Die Schwelle in ihren unterschiedlichen formalen Ausprägungen wird zu einem zwanghaften Raum, in dem sich die Natur ausdrückt. Dieser übergang ist Leere und zeugt von Verschwinden, er umfasst die Vergangenheit und öffnet sich als relativierende Zukunft in ein noch unbekanntes Morgen. Die Verbindung der vergänglichen Elemente ist dem Zufall überlassen.
Jean-François Luthy beschäftigt sich mit unserer Umwelt (in den verschiedenen Bedeutungen dieses Begriffs) und weist auf die möglichen und unmöglichen Beziehungen hin, die wir mit ihr eingehen können. Der Künstler stellt die Realität dar, ohne einen Teil davon auszuwählen. Er schafft lediglich den Rahmen, der sich ins Leere und Unbekannte öffnet, in eine ungewisse Zukunft. Keine Transzendenz am Horizont, sondern eine helle Leinwand als Fläche möglicher Projektionen.
Die Natur lässt sich hier in einer unaufdringlichen, vom Künstler jedoch verstärkten Weise erfahren, als Stille, als ein Seufzer, als ein unbestimmter Windhauch, als eine Zeit des übergangs. Was wird aus der Natur, die wir in ihren Abgründen erkundet haben? Wird sie neu geboren, wird sie sich entfalten und neu erschaffen? Wird die Grenze zu einer Verbindung anstelle einer Trennlinie? Wird es dem Menschen gelingen, die Schwelle zu passieren, zu überschreiten? Auch wenn mit dem Titel der Serie Renouveau eine gewisse Hoffnung Einzug hält in die Werke von Jean-François Luthy, so dominieren dennoch die Abwesenheit, der Verlust, das Verschwinden und die Annullierung und verstärken das Unzugängliche und Ungewisse. Die „naturalistische“ oder „fotografische“ Darstellung durch den Künstler intensiviert paradoxerweise die Präsenz der Leere und des „Dazwischen“. Sie liest sich wie eine Höhle der Natur, wie ein Abgrund als schicksalhafter Ort, an dem wir die unterschiedlichen Beziehungen wiederfinden, die wir als Menschen des Hier und Jetzt zu unserer Umwelt haben. Die Arbeiten von Jean-François Luthy beschreiben den Ort somit als unausweichlichen Ort zwischen den Orten, als unendliches Intervall.
Véronique Mauron